Nie in der Geschichte war die Menschheit so reich; doch nie war dieser Reichtum so ungleich verteilt. Die Antwort auf den Wahnsinn heißt: Sozialismus von unten. Von Ramsis Kilani
Wer sich heute auf der Erde umschaut, kommt schnell zum Schluss: Irgendetwas läuft hier falsch. Millionen Menschen verarmen, obwohl einige wenige unermesslich reich werden. Laut einer Oxfam-Studie von 2024 besitzen die fünf reichsten Männer ein höheres Vermögen als 60 Prozent der Menschheit. Die Nahrungsproduktion könnte weit mehr ernähren als die aktuelle Weltbevölkerung. Trotzdem hungert ein Zehntel der Menschheit.
Global greifen Rechtsruck und autoritärer Staatsumbau um sich. In Palästina findet vor unseren Augen ein Genozid in Echtzeit statt, den niemand stoppt. Dafür, dass Menschen sich gegenseitig in weltweit zunehmenden Kriegen töten, ist genug Geld da. Schulen und Krankenhäuser bleiben hingegen marode und unterbesetzt. Gleichzeitig geht der Raubbau an der Umwelt allen Klimaversprechen zum Trotz weiter. Jährlich brechen mehr und mehr tödliche Naturkatastrophen aus.
Der Kapitalismus verspricht Fortschritt und Sicherheit. Was er liefert, sind Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Zerstörung. Diese Krisen sind kein Zufall. Sie entspringen einer Wirtschaftsordnung, die von vornherein nie auf die Stillung menschlicher Bedürfnisse ausgelegt war. Stattdessen zählt die Jagd nach Profiten und das Bestehen gegen die Konkurrenz auf dem Markt. Im Kapitalismus treffen nicht diejenigen Entscheidungen, die ihre Arbeitskraft einsetzen, um Waren zum täglichen Leben herzustellen.
Die beschränkte bürgerliche Demokratie endet spätestens am Werkstor, in Pflegeheimen und Supermärkten: Es sind nicht die Arbeiter:innen, die demokratisch bestimmen, was sie wie und unter welchen Umständen nach Bedarf schaffen. Es ist die Diktatur des Kapitals, die den Ton angibt und Menschen in Konkurrenz zueinander bringt. Eine kleine Minderheit von Kapitalist:innen kontrolliert und bestimmt über die Produktionsmittel.
Eine Alternative ist möglich – und nötig
Aber Arbeiter:innen ohne Kontrolle über die Produktionsmittel sind nicht machtlos. Denn ihre Arbeit hält das System am Laufen. Die Geschichte zeigt: Es gibt eine realistische Alternative der Selbstbefreiung von unten im Gegensatz zum menschenverachtenden Kapitalismus.
Der Keim einer solchen Gesellschaft kam in verschiedenen Aufständen der letzten über 150 Jahre seit der Pariser Kommune auf: In Räten nahmen Menschen ihr Leben in die eigene Hand, wählten Delegierte aus Betrieben, Nachbarschaften und anderen Orten des öffentlichen Lebens. Zusammen entschieden sie über das, was sie taten.
Diese Selbstorganisierung von unten trug unterschiedliche Namen: Arbeiter- und Soldatenräte 1918 in Deutschland, die Sowjets der Oktoberrevolution 1917 in Russland, Shorah im Iran Ende der 70er oder auch Vorformen von Rätestrukturen wie die Cordones in Chile Ende der 60er oder die Widerstandskomitees im Sudan des Jahres 2019. Was sie eint, ist, dass kollektive Bedürfnissorge in ihrem Mittelpunkt steht.
Marijanne, eine Aktivistin im libanesischen Aufstand von 2019 berichtet: »Es war, als würde sich unser Freundeskreis plötzlich ausweiten und alle Mitmenschen umfassen. Es entstanden Straßenküchen für die allgemeine Verpflegung.«
Angesichts der historischen Erfahrungen ist es alles andere als an den Haaren herbeigezogen, dass eine befreite Gesellschaft in unserer Zeit grundlegende Veränderungen erreichen kann: Eine global demokratisch geplante Klimapolitik, die sich nicht länger nach der Vermehrung von Kapital ausrichtet, kann die Probleme der Krise endlich effektiv angehen. Einem kostenlosen, klimaneutral Nah- und Fernverkehr sowie öffentlichen Gratiskantinen stünden keine profitgetriebenen Bosse und kapitalistischen Staaten mehr im Wege. Statt Exportgewinne einer Minderheit stünde die Förderung lokaler Nahrungsproduktion und Wasserversorgung im Vordergrund. Ackerland würde den Kommunen zurückzugeben.
Dass der Großkonzern Nestlé für Umsatz mit billiger Babynahrung in Afrika dutzendweise Kindeswohl gefährdet, würde nach seiner Enteignung der Vergangenheit angehören. Kapitalistische Staaten halten sich bei weltweiten Infektionskrankheiten wie der Corona-Pandemie gegenseitig patentgeschützte Impfstoffe vor. Stattdessen würde eine sozialistische Gesellschaft die Verteilung von Medikamenten und Impfschutz sicherstellen.
Eine solche Welt ist nicht einfach eine Utopie. Wir verfügen über die Technologie und über Ressourcen im Überfluss. Aber sie sind ungleichmäßig in einem System konzentriert, das nicht uns dienen soll – sondern wenigen.
Um Freiheit zu erreichen, müssen wir uns gegen einen mächtigen Gegner behaupten
Die Produktionsmittel – also Maschinen, Fabriken, Banken, Energieanlagen, Großunternehmen – sind im Besitz einer kleinen Kapitalistenklasse. Solange das so bleibt, entscheiden nicht wir, sondern sie. Deshalb kommt niemand, der für eine andere Welt einsteht, an ihrer Enteignung vorbei. Der private Besitz der Kapitalist:innen muss zum kollektiven Eigentum unter Kontrolle der arbeitenden Mehrheit werden.
Natürlich wird die herrschende Klasse, die von unserer Ausbeutung profitiert und uns über die kapitalistische Staatsgewalt unterdrückt, eine solche Umverteilung nicht freiwillig zulassen. Nur eine revolutionäre Massenbewegung gegen die kapitalistische Klassenherrschaft kann das erreichen. Ein Aufstand entsteht spontan und mit ungleichen Ideen und Bewusstseinsständen. Deshalb ist das Gelingen einer Revolution auf die bewusste Organisierung revolutionärer Kräfte in einer darauf vorbereiteten Bewegungspartei angewiesen. Bereits im Hier und Jetzt müssen wir eine revolutionäre Organisation für einen Sozialismus von unten aufbauen.
Wenn wir den Kapitalismus beenden, gewinnen wir nicht nur eine andere Wirtschaftsform – wir gewinnen die Kontrolle über unser Leben zurück: Es ist Zeit, nicht nur von einer solidarischen Welt zu träumen, sondern in ihrem Sinne zu handeln.
Titelfoto: Goethe Institut (Public Domain)
